43
Wasser ist das Bild des Lebens. Wir kommen aus dem Wasser und sind an seine ständige Allgegenwart angepasst ... und wir passen uns weiter an.
Pardot Kynes, Imperialer Planetologe
»Hier draußen haben wir nichts von Ihren Annehmlichkeiten, Lady Fenring«, sagte die Shadout Mapes, während sie ihr im Mondlicht auf kurzen Beinen vorauseilte. Ihre Schritte waren so präzise und sorgfältig, dass sie keinen Staub vom harten Boden aufwirbelte. Im Gegensatz zum Treibhaus speicherte die knochentrockene Nacht nur sehr wenig Tageswärme. »Ist Ihnen kalt?«
Sie blickte sich zur gertenschlanken, blonden Margot um, die mit stolz erhobenem Haupt vor dem Priester aus Rutii ging. Mapes trug ihren Djhubba-Umhang. Die Filterstopfen des Destillanzugs baumelten neben ihrem Gesicht, und in ihren dunklen Augen spiegelte sich das Licht des Zweiten Mondes.
»Mir ist nicht kalt«, erwiderte Margot knapp. Sie trug zwar nur ihr Hauskleid aus Glitzerstoff, doch sie konnte ihren Metabolismus an die Bedingungen anpassen.
»Und diese Hausschuhe mit den dünnen Sohlen, die Sie tragen«, tadelte der Priester. »Völlig ungeeignet für einen Marsch durch die Wüste.«
»Sie haben mir keine Zeit gelassen, mich für diesen Ausflug umzuziehen.« Wie alle Ehrwürdigen Mütter hatte sie durch das Kampftraining, das sie jeden Tag durchführen musste, eine dicke Hornhaut unter den Füßen. »Wenn die Schuhe durchgewetzt sind, gehe ich eben barfuß.«
Beide Fremen lächelten über ihre Unerschütterlichkeit. »Sie hält tatsächlich gut Schritt«, räumte Mapes ein. »Ganz anders als die anderen wasserfetten Imperialen.«
»Ich kann auch schneller gehen«, bot Margot an, »wenn Sie möchten.«
Mapes nahm die Herausforderung an und legte ein militärisches Marschtempo vor, ohne schwerer zu atmen. Margot hielt Schritt, ohne ins Schwitzen zu kommen. Ein Nachtvogel strich über den Himmel und stieß einen durchdringenden Schrei aus.
Der unbefestigte Weg führte von Arrakeen zum Dorf Rutii, dass im Schutz der kahlen Hügel vor dem Schildwall lag. Mapes machte einen großen Bogen um die Lichter der Stadt und schlug einen Pfad ein, der sich den felsigen Abhang hinaufzog.
Vor ihnen ragte der Westliche Randwall auf, ein zerklüfteter Megalithblock, der das Ende des Schildwalls markierte. Die kleine Gruppe begann mit dem Aufstieg, zuerst über einen flachen Felshang, dann über einen steilen und schmalen Pfad, der einer großen Schotterhalde auswich.
Die Fremen bewegten sich schnell und sicher durch die Dunkelheit. Trotz ihres Gleichgewichts- und Ausdauertrainings stolperte Margot zweimal auf dem unvertrauten Gelände und musste von den anderen aufgefangen werden. Das schien ihren Führern zu gefallen.
Mehr als zwei Stunden waren vergangen, seit sie die Sicherheit und Bequemlichkeit der Residenz von Arrakeen verlassen hatten. Margot musste ihre Kraftreserven anzapfen, aber sie zeigte immer noch keine Anzeichen von Schwäche. Sind unsere verlorenen Schwestern genau denselben Weg gegangen?
Mapes und der Priester tauschten fremdartige Worte in einer Sprache aus, die Margots Tiefenerinnerung als Chakobsa identifizierte, die uralte Sprache, die von den Fremen seit ihrer Ankunft auf Arrakis verwendet wurde. Als sie einen Satz der Shadout verstand, erwiderte Margot: »Die Macht Gottes ist in der Tat groß.«
Ihre Worte beunruhigten den Priester, doch seine kleinere Begleiterin lächelte nur weise. »Die Sayyadina wird mit ihr sprechen.«
Der Weg verzweigte sich mehrmals, und die Fremen-Frau führte sie hinauf und hinunter oder in Schlangenlinien, bevor sie den Aufstieg fortsetzten. Im blassen Mondlicht erkannte Margot einige Stellen wieder; also sollte ihr Orientierungssinn verwirrt werden. Doch mit ihren mentalen Fähigkeiten als Bene Gesserit würde sie jederzeit den Rückweg wiederfinden und sich an jedes Detail erinnern.
In ihrer Ungeduld und Neugier wollte sie die Fremen tadeln, dass sie völlig unnötig einen so beschwerlichen Weg nahmen, doch dann entschied sie, nichts von ihren Fähigkeiten zu verraten. Nach jahrelanger Wartezeit wurde sie endlich in ihre geheime Welt geführt, zu einem Ort, den kein Fremder jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die Mutter Oberin Harishka erwartete von ihr, dass sie jede Einzelheit beobachtete. Vielleicht würde Margot endlich die Informationen erhalten, nach denen sie schon so lange suchte.
An einer Felskante drückte sich Mapes mit der Brust an das Gestein, hielt sich mit den Fingerspitzen fest und schob sich über einen sehr schmalen Pfad neben einem steilen Abgrund. Ohne Zögern tat Margot es ihr nach. In der Ferne flimmerten die Lichter von Arrakeen, und das Dorf Rutii lag jetzt unsichtbar tief unter ihnen.
Mapes, die ihr mehrere Meter voraus war, schien plötzlich in der Felswand zu verschwinden. Dann sah Margot einen kleinen Höhleneingang, der kaum weit genug für einen Menschen war. Drinnen erweiterte sich der Raum nach links, und im schwachen Licht erkannte sie Werkzeugspuren an den Wänden, wo Fremen die Höhle vergrößert hatten. Der strenge Geruch nach ungewaschenen Körpern drang ihr in die Nase. Die Shadout winkte ihr weiterzugehen.
Als der Priester sie eingeholt hatte, löste Mapes ein Türsiegel und öffnete einen getarnten Durchgang. Plötzlich waren Stimmen zu hören, die sich mit dem Summen von Maschinen und den raschelnden Bewegungen vieler Menschen vermischten. Auf ein düsteres Gelb eingestellte Leuchtgloben trieben durch die Luft.
Mapes trat durch eine mit Stoff verhangene Tür in einen Raum, in dem Frauen an maschinellen Webstühlen saßen und lange Haarsträhnen und Wüstenbaumwolle zu Textilien verarbeiteten. In der warmen Luft lag ein intensiver Menschengeruch und das Aroma der Melange. Aller Augen wandten sich dem hohen Besuch zu.
Hinter dem Webraum lag eine weitere Kammer, in der ein Mann einen Metalltopf bewachte, der über einem Kochfeuer hing. Der Widerschein der Flammen tanzte über das runzlige Gesicht der Shadout und verlieh ihren tiefblauen Augen etwas Verwegenes. Margot beobachtete alles und speicherte die Einzelheiten für ihren späteren Bericht. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass es den Fremen gelang, eine Siedlung mit so großer Bevölkerung zu verbergen.
Schließlich kamen sie in eine größere Höhle, in der Beete mit Wüstenpflanzen angelegt waren, zwischen denen Wege verliefen. Margot erkannte Saguaro-Kakteen, wilde Luzerne, Creosote-Büsche und Mangelgräser. Eine komplette botanische Versuchsanlage!
»Warten Sie hier, Lady Fenring.« Mapes und der Priester gingen weiter. Als Margot allein war, bückte sie sich, um die Pflanzen zu inspizieren. Sie sah glänzende Früchte, festes Fleisch, blasse junge Triebe. Aus einer anderen Höhle hörte sie Stimmen und hallende Gesänge.
Als sie ein Geräusch in unmittelbarer Nähe wahrnahm, drehte sie sich um. Hinter ihr stand eine uralte Frau in schwarzem Gewand auf einem Gartenweg. Sie hatte die Arme über der Brust verschränkt und wirkte verwittert und ausgedörrt, als wäre sie aus Shiga-Draht gemacht. Sie trug eine Kette aus funkelnden Metallringen um den Hals, und ihre Augen waren wie tiefe Gruben in ihrem Gesicht.
Etwas an ihrer Haltung, an ihrer Präsenz, erinnerte Margot an eine Bene Gesserit. Die Mutter Oberin Harishka auf Wallach IX näherte sich der Zweihundert-Jahre-Grenze, aber diese Frau schien noch viel älter zu sein. Ihr Körper war mit Gewürz gesättigt, während ihre Haut eher durch das Klima als den Ablauf der biologischen Uhr gealtert war. Selbst ihre Stimme war knochentrocken. »Ich bin die Sayyadina Ramallo. Wir wollen in Kürze mit der Saatzeremonie beginnen. Schließ dich an, wenn du wirklich die bist, die du zu sein behauptest.«
Ramallo! Ich kenne diesen Namen. Margot trat vor und wollte die geheimen Codesätze sprechen, die offenbaren würden, dass sie mit der Arbeit der Missionaria Protectiva vertraut war. Eine Frau namens Ramallo war vor über hundert Jahren in der Wüste verschwunden ... als Letzte einer langen Reihe von vermissten Ehrwürdigen Müttern.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit, Kind«, unterbrach die alte Frau sie. »Alle warten bereits. Sie sind genauso neugierig auf dich wie ich.«
Margot folgte der Sayyadina in eine riesige Höhle, in der sich Tausende von Menschen drängten. Sie hatte sich nicht vorzustellen vermocht, dass es einen so großen Hohlraum im Gestein geben könnte. Wie waren sie der Entdeckung durch die ständigen Harkonnen-Patrouillen entgangen? Das hier war keine ärmliche Ansiedlung, sondern eine ganze Stadt. Die Fremen hatten viel größere Geheimnisse und Pläne, als selbst Hasimir Fenring ahnte.
Ein Schwall aus unangenehmen Gerüchen schlug ihr entgegen. Die zahlreichen Fremen waren in verstaubten Umhängen oder am Kragen geöffneten Destillanzügen gekommen, da die Höhlenluft genügend Feuchtigkeit enthielt. An einer Seite stand der Priester, der sie von Arrakeen hierher gebracht hatte.
Ich bin sicher, dass sie im Treibhaus keine Spur unseres Aufbruchs hinterlassen haben. Wenn sie vorhaben, mich hier zu töten, wird niemand wissen, was mit mir geschehen ist. Genauso wie bei den anderen Schwestern. Dann lächelte Margot still. Nein, wenn mir etwas zustößt, wird Hasimir sie ausfindig machen. Die Fremen mochten glauben, dass ihre Geheimnisse sicher waren, aber sie hätten keine Chance, wenn der Graf beschließen sollte, seinen Verstand und seine Bemühungen auf die Suche nach ihnen zu richten.
Die Fremen mochten daran zweifeln, nicht jedoch Margot.
Als die letzten Wüstenmenschen aus den verschiedenen Eingängen in die Höhle strömten, nahm Ramallo Margots Rechte in ihre sehnige Hand. »Folge mir.« Die uralte Sayyadina führte sie über Felsstufen zu einer Plattform hinauf, wo sie sich der Menge zuwandte.
In der Höhle wurde es still; nur noch die Kleidung raschelte leise wie Fledermausflügel.
Mit leichter Beklemmung stellte sich Margot hinter die alte Frau. Ich komme mir wie ein Opfer vor. Sie machte eine Atemübung, um sich zu beruhigen. Zahllose undurchdringliche Fremen-Augen starrten sie an.
»Shai-Hulud wacht über uns«, begann Ramallo. »Die Wassermeister sollen vortreten.«
Vier Männer schoben sich durch die Menge nach vorn. Je zwei trugen einen kleinen Ledersack. Sie legten die schwappenden Behälter zu den Füßen der Sayyadina ab.
»Gibt es Saat?«, fragte Ramallo.
»Es gibt Saat«, antworteten die Männer im Chor. Dann machten sie kehrt und gingen.
Ramallo öffnete einen Sack am oberen Ende und spritzte sich Flüssigkeit auf beide Hände. »Gesegnet sei das Wasser und seine Saat.« Dabei hob sie die Hände, von denen die blaue Flüssigkeit wie geschmolzene Saphire tropfte.
Margot zuckte zusammen, als sie die Worte hörte, denn sie waren der Giftprobe der Bene Gesserit sehr ähnlich, durch die eine Schwester zu einer Ehrwürdigen Mutter wurde. Verschiedene Chemikalien – allesamt tödliche Gifte – konnten verwendet werden, um eine Schwester dieser qualvollen physischen und mentalen Prüfung zu unterziehen. Steckte die Missionaria Protectiva dahinter? Hatten die verschwundenen Bene Gesserit dieses Geheimnis an die Fremen verraten? Was mochten die Wüstenbewohner noch alles über die Pläne der Schwesternschaft wissen?
Ramallo öffnete die verschnürte Tülle des Schlauchs und hielt sie in Margots Richtung. Ohne jedes Anzeichen der Unsicherheit ging Margot in die Knie und nahm den Trinkhalm in die Hand. Erst dann zögerte sie.
»Wenn du wahrhaftig eine Ehrwürdige Mutter bist«, flüsterte Ramallo, »dann kannst du diese Essenz des Shai-Hulud trinken, ohne dass dir etwas geschieht.«
»Ich bin eine Ehrwürdige Mutter«, sagte Margot. »Ich habe es schon einmal getan.«
Die Fremen wahrten ihr tiefes, ehrfürchtiges Schweigen.
»Dies hast du noch nie zuvor getan, Kind«, entgegnete die alte Frau. »Shai-Hulud wird über dich urteilen.«
Die Flüssigkeit verströmte den vertrauten Gewürzduft, der jedoch mit einer bitteren Note vermischt war – und einer tödlichen Drohung. Obwohl sie die Agonie überstanden hatte und zu einer Ehrwürdigen Mutter geworden war, hätte Margot die Prozedur beinahe nicht überlebt.
Aber sie würde es noch einmal schaffen.
Die Sayyadina löste den Verschluss des zweiten Sacks. Sie nahm einen Schluck aus der Tülle, dann verdrehte sie die Pupillen ihrer Augen.
Ich darf mich nicht fürchten, dachte Margot. Die Furcht tötet das Bewußtsein ... Stumm zitierte sie die gesamte Litanei gegen die Furcht, dann saugte sie am Trinkhalm. Es war nur ein Tropfen, der kaum die Spitze ihrer Zunge benetzte.
Doch der widerliche Geschmack schlug wie ein Hammer auf ihre Sinne ein, und die Erschütterung pflanzte sich bis in ihren Hinterkopf fort. Gift! Ihr Körper sträubte sich, aber sie zwang sich zur Konzentration auf ihre Biochemie, um hier ein Molekül zu verändern oder dort ein Radikal freizusetzen. Sie musste ihr gesamtes Können einsetzen.
Margot ließ die Tülle los. Ihr Bewusstsein schien zu schweben, und die Zeit hielt in ihrem ewigen kosmischen Lauf inne. Sie ließ zu, dass ihr Körper und ihre antrainierten Fähigkeiten als Bene Gesserit die Kontrolle übernahmen, um die Chemie des tödlichen Gifts zu neutralisieren. Margot verstand, was sie zu tun hatte. Sie musste die Substanz in etwas Nützliches verwandeln, einen Katalysator erzeugen, der die übrige Flüssigkeit in den Schläuchen transformierte ...
Der Geschmack in ihrem Mund wurde süß.
Jede Handlung, die sie bis zu diesem Zeitpunkt je unternommen hatte, war nun wie ein großes Gemälde vor ihr ausgebreitet. Schwester Margot Rashino-Zea, nun Lady Margot Fenring, studierte sich selbst in allen Einzelheiten, jede Zelle ihres Körpers, jede Nervenfaser ... jeden Gedanken, den sie je gehabt hatte. Tief im Zentrum ihrer Existenz fand sie jenen schrecklichen, dunklen Ort, den sie niemals sehen konnte, der sie und ihresgleichen faszinierte und erschreckte. Nur der seit langem erwartete Kwisatz Haderach konnte ihn erblicken. Der Lisan al-Gaib.
Ich werde es überleben, sagte sie sich.
In Margots Kopf hallte es, als wäre ein Gong geschlagen worden. Vor sich sah sie ein verzerrtes, schwankendes Bild der Sayyadina Ramallo. Dann trat einer der Wassermeister vor und drückte Margot die Tülle an den Mund, um den Tropfen der transformierten Flüssigkeit aufzufangen, den sie nun in den Behälter entließ. Die uralte Frau an ihrer Seite ließ den zweiten Schlauch los, worauf weitere Wassermeister das umgewandelte Gift in kleinere Behältnisse umfüllten, wie Brandstifter, die ihre Fackeln an ein Feld aus trockenem Gras hielten.
Die Menschen drängten sich um die Schläuche, um einen Tropfen der katalysierten Droge zu empfangen und sich die Lippen damit zu befeuchten. Irgendwo in Margots Bewusstsein tauchten Worte von Ramallo auf: »Du hast geholfen, es für sie möglich zu machen.«
Seltsam. Das hier war ganz anders als ihre bisherige Erfahrung ... aber so unterschiedlich war es auch wieder nicht.
Wie ein Träumer, der durch sein eigenes Bewusstsein treibt, kehrte Margot langsam in die große Höhle zurück, und die Drogenvision verblasste zu einer unklaren Erinnerung. Immer noch berührten Fremen die Tropfen der Flüssigkeit, kosteten davon und traten zur Seite, damit andere ihren Platz einnehmen konnten. Euphorie breitete sich wie ein Sonnenaufgang unter den Menschen aus.
»Ja, einst war ich eine Ehrwürdige Mutter«, sagte Ramallo endlich zu ihr. »Vor vielen Jahren kannte ich deine Mutter Oberin.«
Margot stand immer noch unter den Nachwirkungen der starken Droge, sodass sie nicht einmal schockiert reagieren konnte. Die alte Frau nickte. »Schwester Harishka und ich waren Klassenkameradinnen ... vor langer, langer Zeit. Ich ging in die Missionaria Protectiva und wurde zusammen mit neun anderen Ehrwürdigen Müttern hierher geschickt. Hier hatte sich die Spur vieler Frauen unseres Ordens verloren, die von Fremen-Stämmen aufgenommen wurden. Andere starben einfach in der Wüste. Ich bin die Letzte. Es ist ein hartes Leben auf Dune, selbst für eine ausgebildete Bene Gesserit. Selbst mithilfe der Melange, die wir auf neue Weise verstanden und zu schätzen gelernt haben.«
Margot blickte tief in Ramallos Augen und sah darin ihre Weisheit.
»In deiner Botschaft erwähntest du den Lisan al-Gaib«, sagte Ramallo mit einem Zittern in der Stimme. »Er ist nah, nicht wahr? Nach all den Jahrtausenden.«
Margot sprach leise, während die Fremen in eine immer wildere Ekstase gerieten. »Wir hoffen, dass es in zwei Generationen soweit ist.«
»Diese Menschen haben sehr lange gewartet.« Die Sayyadina beobachtete die Euphorie der Menschen. »Ich könnte dir Bene-Gesserit-Angelegenheiten offenbaren, Kind, aber ich bin jetzt auch den Fremen zur Treue verpflichtet. Ich habe geschworen, die Werte der Wüstenstämme zu wahren. Gewisse Dinge dürfen keinem Fremden offenbart werden. Eines Tages muss ich eine Nachfolgerin erwählen – zweifellos eine dieser Frauen hier.«
Ramallo senkte den Kopf. »Die Tau-Orgie des Sietches ist ein Verbindungspunkt von Bene Gesserit und Fremen. Schon lange vor der Missionaria Protectiva hatten diese Menschen einen Weg gefunden, die bewusstseinserweiternden Fähigkeiten dieser Droge auf primitive Art zu nutzen.«
Die Fremen ließen sich durch die düstere Höhle treiben, vom transformierten Gift benebelt, manche in einen Zustand des inneren Friedens und der Ekstase erhoben, während andere zur wilden sexuellen Vereinigung getrieben wurden. Eine Leinwand mit einer flüchtig skizzierten anderen Wirklichkeit hatte sich über sie gelegt und verwandelte ihr hartes Leben in ein Traumbild.
»Im Laufe der Jahrhunderte haben Schwestern wie ich sie angehalten, neue Rituale zu entwickeln. Wir haben die alten Fremen-Traditionen unseren Vorstellungen angepasst.«
»Sie haben hier sehr viel erreicht, Mutter. Auf Wallach IX ist man gespannt, mehr darüber zu erfahren.«
Während die Orgie der Fremen weiterging, hatte Margot ein Gefühl des Schwebens, der Betäubtheit und des Losgelöstseins. Die uralte Frau hob eine klauenartige Hand, um sie zu segnen, um sie wieder in die äußere Realität zu entlassen. »Geh und erstatte Harishka Bericht.« Ramallo zeigte ein feines Lächeln. »Und überreiche ihr dieses Geschenk.« Sie zog ein kleines gebundenes Buch aus einer Tasche ihres Gewandes.
Margot öffnete es und las die Titelseite: Handbuch der Freundlichen Wüste. Darunter stand in kleineren Lettern: »Ein Ort voller Leben. Hier findest du die Ayat und Burhan des Lebens. Glaube, und al-Lat wird dich niemals verbrennen.«
»Es ist wie das Buch Azhar«, rief Margot überrascht. Der Inhalt war geschickt an die Lebensumstände der Fremen angepasst worden. »Unser Buch der Großen Geheimnisse.«
»Schenke Harishka dieses heilige Buch. Es wird sie erfreuen.«
* * *
Mit deutlich größerer Ehrfurcht als zuvor brachte der Priester aus Rutii Margot zur Residenz von Arrakeen zurück. Sie traf kurz vor der Dämmerung ein, als der Himmel gerade eine pastellene Orangefärbung anzunehmen begann. Lautlos schlüpfte sie in ihr Bett. Niemand im gesamten Haushalt – mit Ausnahme der Shadout Mapes – wusste, dass sie fort gewesen war. Aufgeregt lag sie stundenlang wach ...
Mehrere Tage später machte sich Margot mit einem Kopf voller Fragen auf den Weg und folgte dem Weg zur Höhle. Sie ließ sich von ihrer kristallklaren Erinnerung leiten. Im hellen Sonnenlicht erkletterte sie den steilen Pfad in den Westlichen Randwall und tastete sich über die schmale Felskante zum Eingang des Sietches. Die Hitze machte ihr zu schaffen.
Sie schlüpfte in den kühlen Schatten der Höhle und stellte fest, dass das Türsiegel entfernt worden war. Sie ging durch die Höhlen, die allesamt leer waren. Keine Maschinen, keine Einrichtungsgegenstände, keine Menschen. Kein Beweis. Nur Gerüche, die noch nicht ganz verflogen waren ...
»Also vertraust du mir doch nicht ohne Einschränkung, Sayyadina«, sagte sie laut.
Margot blieb für längere Zeit in der großen Höhle, wo die Tau-Orgie stattgefunden hatte. Sie kniete sich auf den Boden, wo sie vom Wasser des Lebens getrunken hatte, und spürte die Echos der Anwesenheit von Menschen. Die nun allesamt fort waren ...
Am nächsten Tag kehrte Graf Hasimir Fenring von einer Inspektionsreise durch die Wüste mit Baron Harkonnen zurück. Beim Abendessen erfreute er sich an der Gegenwart seiner hübschen Frau und fragte sie, was sie während seiner Abwesenheit getan hatte.
»Ach, nichts, mein Lieber«, antwortete sie und warf unbeschwert ihr honigblondes Haar zurück. Sie hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. »Ich habe meinen Garten gepflegt.«